Grundsätzliche Herausforderungen
Es ist eine Schlüsselaufgabe des Städtebaus, Energiewende und Klimawandel zu meistern und gleichzeitig attraktive, lebenswerte und bezahlbare städtische Räume zu schaffen. Eine in höchstem Maße inhomogene Raumtypologie rückt dabei international – aber auch in Berlin – in den Fokus des Interesses: die „innere Peripherie“. Gemeint sind damit städtebauliche Strukturen, die zumeist außerhalb des S-Bahnringes bzw. der gründerzeitlichen Wohnquartiere an den großen Hauptstraßen liegen und die hauptsächlich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge des autogerechten Um- und Weiterbaus der Stadt entstanden sind; die weitgehend monofunktional (gewerblich oder als Wohnraum) genutzt werden und die in ihrer Erschließung größtenteils auf die autogerechte Stadt mit ihren großen Erschließungsstraßen ausgerichtet und wenig fußgängerfreundlich sind, obwohl sie teilweise sogar über eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr verfügen. Diese Räume sind oft städtebaulich fragmentiert und schlecht an ihre städtischen Zubringer angeschlossen, so dass die Flächen nicht ihrem Potenzial und ihrer Lage entsprechend genutzt werden können. Gleichzeitig bieten sie jedoch auch Platz für Nischennutzungen, die u. a. aus ökonomischen Gründen in anderen Teilen der Stadt keinen Raum finden.
Viele dieser Gebiete lagen in den vergangenen 20 Jahren nicht im Fokus städtebaulicher und öffentlicher Aufmerksamkeit, die sich in Berlin vor allem auf das Zentrum sowie auf suburbane Wohngebiete (innerhalb oder außerhalb der Berliner Stadtgrenze) oder einzelne „Leuchtturmprojekte“ wie Adlershof konzentrierte. Aufgrund vielfältiger Herausforderungen müssen diese Bereiche Berlins jetzt jedoch ins Visier genommen werden: Berlin wächst, und es stellt sich die Frage, wie dieses Bevölkerungswachstum (das ja auch ein Wachstum an Arbeitsplätzen und anderen Folgeeinrichtungen wie sozialer Infrastruktur, Einzelhandel, u.a. nach sich zieht) untergebracht werden kann – und zwar sozialverträglich, die Anforderungen des Klimawandels und der Energiewende berücksichtigend, ökonomisch machbar und gestalterisch ansprechend. Das Wachstum der Stadt bietet die Chance, die „innere Peripherie“ zu reurbanisieren und die problematischen städtebaulichen Strukturen gestalterisch und funktional zu verbessern. Wie eine solche Nachverdichtung im Bestand der autogerechten inneren Peripherie aussehen kann, ist weitestgehend unklar – in Berlin ebenso wie im internationalen Kontext. Planern stehen hier bislang kaum geeignete Strategien zur Verfügung. So fehlt es etwa an Konzepten für neue Formen der Nutzungsmischung – besonders auf Parzellenebene. Die Urbanisierung der inneren Peripherie stellt eine der großen Herausforderungen der kommenden Jahre dar – in Berlin, wie international. Ganz besonders verdichten sich diese Fragen an den durch den Individualverkehr geprägten Radialstraßen. Vor diesem Hintergrund lassen sich an konkreten Orten mit konkreten Herausforderungen und Potenzialen in einer Bauausstellung in Berlin exemplarisch lokale Probleme mit neuen Ansätzen lösen, und dabei eine internationale Ausstrahlungskraft entwickeln.
Eine IBA, die sich dem Ringen um eine Energiewende und einer nachhaltigen Stadtentwicklung für alle Bevölkerungsschichten Berlins verpflichtet sieht, muss sich vor diesem Hintergrund mit drei großen Themenfeldern auseinandersetzen, die in ihrer Vernetzung eine konkrete und angemessene strategische Antwort darstellen:
- die Nachverdichtung und Anreicherung der inneren Peripherie durch funktional gemischte Strukturen (Wohnungsbau, gewerbliche Nutzungen, Folgeeinrichtungen und öffentliche Räume);
- der Umgang mit dem schwierigen städtebaulichen Bestand des 20. Jahrhunderts und
- die Förderung einer nachhaltigen urbanen Mobilität.
Die Urbanisierung der inneren Peripherie kann nur gelingen, wenn sie nicht als isolierte Aufgabe betrachtet wird. Sie erfordert außerordentliche ökonomische, soziale und kulturelle Sensibilität. Zudem muss diskutiert werden, wie der Begriff „Urbanisierung“ hier zu verstehen ist. Welche Werte und Qualitäten des „Urbanen“ sollen und können auf die innere Peripherie überhaupt übertragen werden, welche eigenen und neuen Qualitäten dieser Räume müssen definiert werden?
Die IBA kann dazu beitragen experimentelle und neuartige Herangehensweisen zu entwickeln: Ein solcher Umbau der „inneren Peripherie“ muss sozial verträglich gesteuert werden, seine Kosten verteilt werden. Einer weiteren sozialen Spaltung – in Stadtbürger, die es sich leisten können, klimaschützend und klimawandelangepasst zu leben, und solche, die dies nicht vermögen – muss vorgebeugt werden. Unsere Städte sollen in diesem Prozess schöner und nicht hässlicher werden. Die bislang vorherrschende Sichtweise auf die Energieeffizienz eines einzelnen Gebäudes muss auf ganze Stadtquartiere ausgeweitet werden. Der öffentliche Nahverkehr muss städtebaulich attraktiver gestaltet und besser mit dem Fußgänger- und Radverkehr integriert werden. Wohnsiedlungen und autoabhängige Strukturen wie Fachmarktzentren oder Shopping Malls müssen umgestaltet werden, damit sie sich in ihr Umfeld integrieren und besser für Fußgänger und Radfahrer zugänglich sind. Viele Großbauten der Nachkriegszeit müssen in die Stadt re-integriert oder rückgebaut werden. Die Großsiedlungen – ein unverzichtbarer Lebensraum für einen beachtlichen Teil der Berliner Bevölkerung – müssen stabilisiert und in ihrer sozialen und funktionalen Vielfalt erweitert werden. Die zersiedelte suburbane Stadtlandschaft muss im Sinne der Nachhaltigkeit ertüchtigt werden, etwa über die Stärkung von Nahversorgungszentren und Knotenpunkten des Nahverkehrs an den Ausfallstraßen. Hauptstraßen und Plätze müssen etwa durch gestärkte, fußgängerfreundliche lokale Zentren reurbanisiert werden.
Einige dieser Themen werden bereits breit diskutiert, allerdings in der Regel völlig getrennt voneinander, isoliert und sektoral.
1. Nachverdichtung und Anreicherung der inneren Peripherie
In der inneren Peripherie muss es vorrangig darum gehen, den städtebaulichen Bestand so anzupassen und weiterzuentwickeln, dass hier ein nachhaltiges Leben und Arbeiten möglich wird. „Die Idee ist, mit der IBA exemplarische Lösungen dafür zu erarbeiten, (…) die oft monofunktionalen und/oder ungeordneten Stadträume zu attraktiven, lebendigen Quartieren zu entwickeln. Damit könnte die IBA Ansätze hervorbringen, die einerseits dem drohenden Auseinanderdriften von Stadträumen begegnen, andererseits dem steigenden Druck auf die begehrten Wohnviertel in der Inneren Stadt etwas entgegensetzen.“[1]
„Eine Nachverdichtung monofunktionaler Wohn- oder Schlafstädte könnte zum Beispiel in diesem Sinne das Ziel verfolgen, eine funktionale Anreicherung zu gewährleisten (Einzelhandel, Bildungseinrichtungen, Arbeitsorte). Die Schaffung zusätzlichen Wohnraums in Bestandsquartieren mit gemischten Typologien aus der Vor- und Nachkriegszeit könnte zur städtebaulichen Aufwertung, etwa durch das Schließen von Raumkanten, oder zur Umsetzung des Ziels einer nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen (Auslastung von Infrastrukturen, Klimaschutz durch kurze Wege, Vermeidung von Zersiedlung).“[2]
Voraussetzung einer solchen Urbanisierung ist ein Paradigmenwechsel in der städtischen Mobilität der Inneren Peripherie, der auf wachsenden Zuspruch für umweltfreundliches Mobilitätsverhalten, auf die Entwicklung von energieeffizienteren, emissionsärmeren und leiseren Kraftfahrzeugen, auf die steigende Beliebtheit von Fahrrad und Carsharing-Angeboten sowie auf die Konsolidierung und den Ausbau des öffentlichen Verkehrs setzen muss.
2. Umgang mit dem schwierigen städtebaulichen Bestand des 20. Jahrhunderts
„Als ein zentrales Themenfeld der IBA 2020 rückt der nachhaltige Umgang mit schwierigen städtebaulichen Bestand des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund – der Umgang mit zersiedelten Einfamilienhausgebieten, mit Großsiedlungen, mit nicht integrierten Gewerbeansiedlungen, mit leer stehenden oder untergenutzten Großbauten. Diese baulichen Strukturen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aus den 1950er bis 1970er Jahren, offenbaren eine Vielzahl von städtebaulichen Herausforderungen, für die im Berliner Kontext, aber auch international neue Ansätze gefunden werden müssen. Der nachhaltige Umbau dieses Bestandes, der u.a. die Erweiterung der sozialen und funktionalen Vielfalt, Maßnahmen für Klimaschutz und Klimaanpassung, die Verbesserung öffentlicher Räume, die Etablierung und Stärkung von lokalen Zentren und die gestalterische Qualifizierung umfasst, ist ein noch weitgehend ungelöstes Aufgabenfeld von strategischer Bedeutung. Zentral sind hier – über die Klärung der Energieeffizienz hinaus – stadtgestalterische, ökonomische, soziale und kulturelle Fragen, also des gesamten Spektrums der Nachhaltigkeit: Können die Bauten und Anlagen nachhaltig in die Stadt reintegriert werden, und wenn ja, wie, wenn nein, was wären die Alternativen? Ist der damit verbundene Kostenaufwand langfristig vertretbar? Wer bezahlt die Kosten – nicht nur der energetischen Sanierung? Ist die Anlage kulturhistorisch bedeutsam? All diese Fragen müssen mit einer stadtregionalen Perspektive diskutiert werden, und zwar weit über die Innenstadt hinaus.“[3]
Förderung einer nachhaltigen urbanen Mobilität.
„Die städtischen Strukturen im 20. Jahrhundert wurden durch das (private) Automobil extrem beeinflusst – Einfamilienhaussiedlungen und suburbane Gewerbeanlagen wären ohne diese individualisierte Form den Mobilität nicht denkbar, große Teile der Stadt – etwa die historisch vielfältigen Stadträume der Ausfallstraßen – wurden durch den Autoverkehr entwertet. Mit einem Paradigmenwechsel in der Mobilität, der auf wachsenden Zuspruch für umweltfreundliches Mobilitätsverhalten, auf die Entwicklung von energieeffizienteren, emissionsärmeren und leiseren Kraftfahrzeugen, auf die steigende Beliebtheit des Fahrrades und auf die Konsolidierung wie den Ausbau des öffentlichen Verkehrs zurückzuführen ist, wird eine Neudefinition des städtischen Verkehrs erforderlich. Diese Neudefinition wird bislang zumeist als rein sektorales Verkehrs-Thema gesehen, eine Integration mit anderen Themen der Stadtentwicklung und -gestaltung erfolgt nicht in ausreichendem Umfang. Städtebaulich betrachtet erfordert die neue Mobilität von morgen den grundlegenden Umbau des öffentlichen Raums: Vor allem die Hauptverkehrsstraßen und Hauptverkehrsplätze sind die zentralen Orte des notwendigen Wandels. Die IBA kann zur Klärung der Frage beitragen, wie große Straßen im Zeitalter postfossiler Mobilität aussehen müssen, mit drastisch weniger Lärm und Feinstaub, mit Priorität für Straßenbahnen, Busse, Fahrradfahrer und Fußgänger. Die IBA kann Ideen entwickeln, wie der öffentliche Nahverkehr städtebaulich attraktiver gestaltet und besser mit dem Fußgänger- und Radverkehr integriert werden kann. Der damit verbundene Stadtumbau kann nur in einer stadtregionalen Perspektive vorbereitet und umgesetzt werden.“[4]
Räumliches Gliederungskonzept für die IBA 2020
„Eine IBA kann – wie frühere IBAs auch – den zukunftsorientierten Umbau nur exemplarisch anpacken. Für die Auswahl der IBA Gebiete müssen vielfältige Argumente abgewogen werden:
- Wo konzentrieren sich wichtige Projekte der Stadtplanung in den kommenden Jahren?
- In welchen Räumen ist eine ökonomische Dynamik zu beobachten, die zur Realisierung von IBA Projekten genutzt und die durch die IBA Organisation in Richtung einer qualitätvollen und nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung gesteuert werden kann?
- In welchen Räumen konzentrieren sich besondere stadtplanerische Herausforderungen?
- Wo gibt es bereits ein etabliertes Netz von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die in Beteiligungs- und Mitwirkungsprozesse miteinbezogen werden können?
- Für welche Gebiete stehen bereits heute und in den nächsten Jahren Fördergelder des Landes, des Bundes und der EU bereit?
Die IBA sollte an wenigen Standorten der inneren Peripherie, die entlang der großen Radialstraßen liegen, verortet werden. So wird räumlich und thematisch ein Zusammenhang zwischen den drei strategischen Themen hergestellt. Durch eine Konzentration der IBA nicht auf einzeln gelegene Pilotprojekte, sondern entlang einiger Radialen kann die IBA zum beispielhaften Umbau der Struktur einer Radialstraße beitragen. „Eine wahllose Streuung von Interventionen, die zu keinem sichtbaren Ergebnis führen, wird vermieden“[5].
Strategische Ziele der IBA 2020
1. NACHVERDICHTUNG DER INNEREN PERIPHERIE
- Qualifizierung und Nachverdichtung einzelner suburbanen Strukturen entlang der Radialstraßen;
- Entwicklung von Ideen für den Umgang mit großflächigem Gewerbe, mit „Kisten“ und mit typischen „Strip“-Nutzungen;
- Wiederbelebung von sozialen und kulturellen Infrastruktureinrichtungen an den Radialstraßen; städtebauliche Markierung von wichtigen Kreuzungspunkten.
- Gestaltung der „Eingänge in die Stadt“ bzw. in die Innenstadt und von Raumsequenzen
- Anbindung an regionale und lokal wichtige „Grün- und Blauzüge“;
2. UMGANG MIT DEM STÄDTEBAULICHEN BESTAND DES 20. JH.
- Entwicklung von Perspektiven für Großsiedlungen (funktionale und soziale Diversifizierung, gestalterische Aufwertung) und deren „Klimagerechtigkeit“ durch temporäre und langfristige Maßnahmen.
- Temporäre und langfristige Nach- und Umnutzungskonzepte für leer stehende Gewerbe- und Industriehallen, Kaufhäuser, Markthallen, Postämter, Schulen, Kraftwerke, Flughafengebäude, Bürogebäude;
3. NACHHALTIGE URBANE MOBILITÄT
- Minderung der Barrierewirkung der Radialstraßen und großer Verkehrsinfrastrukturen im städtischen Umfeld (S-Bahnlinien, Autobahnen);
- Gestalterische und funktionale Verbesserung der Flächen für Fußgänger und Radfahrer, Schaffung neuer Verbindungen; Verbesserung der räumlichen und visuellen Anbindung von Fuß- und Radverkehr mit Stationen des öffentlichen Nahverkehrs.
- Start von Pilotprojekten für nachhaltige Mobilitätsformen, die eine bessere Balance der Verkehrsarten zum Ziel haben;
- Entwicklung von Konzepten für Knotenpunkte zwischen Radialstraße, Stadtbautobahn, S-Bahn, Kanal, anderen Hauptverkehrsstraßen etc., wodurch die Potentiale von attraktiven Wasserlagen oder exzellenter infrastruktureller Erschließung besser genutzt werden sollen;
Konzept „Innere Peripherie reurbanisieren“ zum Download.
[1] Lüscher, Regula (Senatsbaudirektorin): Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Antje Kapek (Grüne) vom 20. 09. 2012: Wie weiter mit der IBA 2020 (II)
[2] Lüscher, Regula (Senatsbaudirektorin): Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Antje Kapek (Grüne) vom 20. 09. 2012: Wie weiter mit der IBA 2020 (II)
[3] Bodenschatz, Harald/Polinna, Cordelia (2011): Perspektiven einer IBA Berlin 2020 – Ein strategisches Gutachten. Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin. Berlin, S. 90-123
[4] Bodenschatz, Harald/Polinna, Cordelia (2011): Perspektiven einer IBA Berlin 2020 – Ein strategisches Gutachten. Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin. Berlin, S. 90-123
[5] Bodenschatz, Harald/Polinna, Cordelia (2011): Perspektiven einer IBA Berlin 2020 – Ein strategisches Gutachten. Gutachten im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin. Berlin, S. 90-123